Canada

Die indigenen Völker Kanadas

Die indigenen Völker Kanadas

July 2022

Jedes Jahr am 1. Juli feiert Kanada seine Gründung im Jahr 1867 mit dem “Canada Day”. Kanada ist stolz darauf, ein Einwandererland zu sein, dass Millionen von Menschen eine neue Heimat und bessere Zukunft gegeben hat. Dieses Zusammenwachsen europäischer, asiatischer und afrikanischer Kulturen scheint gelungen und gibt dem Land diese offene und freundliche Seite, die uns immer wieder begeistert. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass dafür auch sehr vielen Menschen ihre Heimat, Lebensgrundlage, Kultur, Tradition und Sprache weggenommen wurden. Die Ureinwohner Kanadas sind daher an diesem Tag nicht in Feierlaune.

Als Kind haben mich Indianergeschichten begleitet, ich bin aufgewachsen mit den Büchern von Karl May, mit Lederstrumpf und den Söhnen der grossen Bärin. Bis heute faszinieren mich die Geschichten der stolzen Ureinwohner des Nordamerikanischen Kontinents. Auf unserer  Reise durch Kanada werden wir immer wieder mit der Vergangenheit, aber vor allem mit der Gegenwart der Ureinwohner konfrontiert. Es klafft ein grosser Riss zwischen den Bildern der stolzen Völker aus meiner Kindheit und dem gegenwärtigen Leben der First Nations, Inuit und Métis. Es ist mir daher ein Bedürfnis, etwas ausführlicher auf dieses Thema einzugehen.

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“Indigene Philosophien basieren auf der Überzeugung, dass die Beziehung des Menschen zur Erde in erster Linie eine partnerschaftliche ist.

Das Land wurde von einer Macht außerhalb des Menschen geschaffen, und eine gerechte Beziehung zu dieser Macht muss die Tatsache respektieren, dass der Mensch bei der Erschaffung der Erde keine Hand im Spiel hatte; daher hat er auch kein Recht, über sie nach eigenem Gutdünken zu verfügen.”

Auf einer Reise durch Kanada fährt man oft durch sogenannte „First Nations“ Gemeinden. Entlang unserer Route kennzeichnen sich diese Gemeinden meist durch ärmlich aussehende, weit verstreute Häuser, Schotterpisten, Müll und den Tankstellen, an denen man billigeren Sprit bekommt – der Unterschied zu den „weißen“ kanadischen Gemeinden ist insgesamt deutlich zu sehen. Obwohl sich die Lebenssituation insgesamt deutlich verbessert hat, liegt der Lebensstandard noch unter dem der „weißen“ Bevölkerung, die Lebenserwartung ist 10 Jahre niedriger, Kindersterblichkeit und Arbeitslosenrate doppelt so hoch. 

Es gibt heute ca. 1,6 Millionen Ureinwohner in Kanada, diese unterteilen sich in drei Gruppen. Die First Nations waren traditionelle Völker, die südlich der Baumgrenze und hauptsächlich südlich des Polarkreises lebten. Sie stellen den größten Anteil der Ureinwohner Kanadas, in Europa werden bzw. wurden sie allgemein als Indianer bezeichnet. Die Métis, die während der Ära des kanadischen Pelzhandels als eigenständiges Volk mit gemischter Abstammung von den First Nations und den Europäern entstanden sind, wurden 1982 rechtlich als eines der drei indigenen Völker Kanadas anerkannt. Die Inuit leben im hohen Norden und folgen seit Tausenden von Jahren ihren traditionellen Bräuchen.

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Métis
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Inuit
foto First-Nations
First Nation

Geschichte

Ende des 15.Jahrhunderts begann die Entdeckung Nord-Amerikas. In den darauf folgenden 300 Jahren gründeten Engländer und Franzosen Städte im Osten Kanadas und wurde die Erkundung des Westens und Nordens weiter vorangetrieben, waren erst Pelzhandel und später der kommerzielle Holzschlag und die Entdeckung von Gold gute Gründe für die Besiedlung des Landes. Anfangs war das Zusammentreffen der alten und neuen Bewohner des Kontinentes ein geschäftliches, zumeist friedliches Miteinander. Vom Handel mit Pelzen provitierten beide Seiten. Das änderte sich allerdings im 19. Jahrhundert. Es kamen immer mehr Einwanderer, Goldsucher und Industrielle in das Land. Um die Erschliessung Kanadas schneller voranzutreiben, die Eisenbahnstrecken ohne Zwischenfälle bauen und um die Nutzungsrechte für Holz und Gold für sich beanspruchen zu können, schlossen die Weissen im 19. Jahrhundert immer mehr Land- bzw. Friedensverträge, sogenannte “Treatys” mit den einzelnen Stämmen der Ureinwohner ab.

Immer wieder waren  jetztAuseinandersetzungen vorausgegangen, Schiessereien und Überfälle waren inzwischen an der Tagesordnung, westliche Krankheiten waren eingeschleppt und hatten bereits vielen Ureinwohnern das Leben gekostet. Die Bisonherden und damit ihre Lebensgrundlage waren dezimiert (von ehemals 60 Millionen Bisons lebten im 19. Jahrhundert nur noch einige hundert Tiere), Alkohol nahm Einzug in das Leben der Prairiebewohner. Sie versprachen sich von diesen Verträgen Ruhe und ein friedliches Miteinander in diesem doch so grossen Land, das ihrer Meinung nach Platz hatte für alle. Leider war dies in der Regel ein Trugschluss und waren die Weissen keineswegs mehr an einer solchen Koexistenz interessiert. Meist verliefen die Vertragsverhandlungen alles andere als ehrlich. Die Ureinwohner konnten oft  Englisch nicht lesen bzw. schreiben, wurden mit Alkohol betrunken gemacht oder mit Waffengewalt gezwungen, die Verträge zu unterschreiben.

Blackfoot Häuptling Crowfoot sprach bei der Unterzeichung des wichtigstens Friedensvertrages zwischen den im Westen leben Stämmen der Prärieindianer und der Weissen 1877 die folgenden Worte:

“Ich spreche für mein Volk, das zahlreich ist und mir vertrauensvoll folgen wird auf jenem Weg, der in Zukunft sich zum Guten wenden wird. Die Prärien sind gross und weit. Sie sind unsere Heimat und immer ist der Büffel unsere Nahrung gewesen. Ich hoffe, ihr seht von nun an auf die Blackfeet, Bloods und Sarcees wie auf eure Kinder und ihr möget nachsichtig und  wohltätig sein…ich bin zufrieden. Ich werde den Vertrag unterzeichen.”

Den Ureinwohnern wurde mit all diesen Verträgen Land zugewiesen, Reservate in denen sie von nun an leben mussten. Diese waren natürlich nur ein geringer Bruchteil des Lebensraumes, den sie vorher hatten. Eine Anpassung an dieses neue Leben wurde zu einem schwierigen, bis heute nicht wirklich erfolgreichen Übergang. Schlechte medizinische Versorgung, hohe Sterblichkeitsquote, Verlust von Kultur und Traditionen, geringe Schulbildung und Arbeitslosigkeit waren die Folge. Erst im 20. Jahrhundert wurden die “Verträge” letztendlich für nichtig erklärt, jedoch waren die  meisten Schäden da bereits irreversibel.

Boarding Schools

Ein weiteres dunkles Kapitel in der Geschichte Kanadas sind die “boarding schools”. Ende des 19. Jahrhunderts began man in ganz Kanada mit der Deportation von Kinder der Inuit, First Nations und Métis in sogenannte “boarding schools” (Internate). Insgesamt 150.000 Kinder ab einem Alter von 4 Jahren wurden von ihren Familien getrennt, ohne Absprache oder Erlaubnis der Eltern von zuhause abgeholt. Kinder der Inuit wurden sogar mit Flugzeugen aus dem hohen Norden weggebracht.

Diese Internate wurden von der kanadischen Regierung gegründet und finanziert. Geleitet wurde sie von Priestern, Nonnen und Lehrern. Ziel war es, die “unzivilisierten” Ureinwohner vor ihrem Schicksal zu retten bzw. sie nach westlichen Normen umzuerziehen. Das Leben in diesen Internaten war furchtbar. Es gab wenig gute Bildung, meist nur religiösen Unterricht. Dahingegen waren Strafen, Einzelhaft, Gewalt, Misshandlungen und sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung. Die Ernährung war schlecht, Krankheiten verbreiteten sich. Die Kinder haben dabei ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Identiät verloren.

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Nur 80.000 Kinder, etwas mehr als die Hälfte, überlebten diese “Umerziehungsmassnahmen” und sie bezeichnen sich selbst auch offiziell als “survivors of the boarding schools”. 2021 wurde in Kamloops in British-Colombia ein Massengrab mit den Uberresten von 215 Kindern auf dem ehemaligen Gelände einer boarding school gefunden.  Bis heute wurden in nicht gekennzeichneten Gräbern die sterblichen Uberreste von schätzungsweise mehr als 1900 nicht erfassten Personen gefunden.

Viele der Überlebenden fanden auch danach nicht den Weg zu ihren Familien und Gemeinden zurück. Sie hatten das Gefühl, nirgends hinzugehören, sie kannten weder die Traditionen ihrer Vorfahren noch waren sie im Einklang mit der “neuen westlichen Welt”. Viele landeten in Pflegefamilien, wo sich Gewalt und Misshandlung fortsetzten. Psychische Folgen wurden weiter gegeben an die nächsten Generationen. Die letzte “boarding school” schloss erst 1996.

Erst 2008 gab es eine offizielle Anerkennung und Entschuldigung durch den Premierminister Kanada’s, jedoch änderte das leider wenig an dem was geschehen war. Ganz aktuell war im Juli Papst Franziskus in Kanada zu Besuch. Der Papst hat sich mit Führern indigener Völker und Überlebenden der “boarding schools” getroffen, um sich für die Rolle der katholischen Kirche im Internatssystem zu entschuldigen. Auf der Heimreise benutzte er gegenüber Reportern den Begriff “Genozid an der indigenen Bevölkerung”. Vielen reicht dieser Besuch und die Geste jedoch nicht aus, die Meinungen dazu sind sehr kontrovers und man merkt, wie kompliziert dieses Thema nach wie vor ist.

Gegenwart

Nach massiven Hungerkatastrophen in den 1940er Jahren besann sich die kanadische Regierung und baute in den nächsten zwei Dekaden Häuser und Schulen und führte eine Gesundheitsvorsorge ein. Erst in den 1970er Jahren begannen die Ureinwohner ihre Stimme zu erheben. Sie bestanden auf Rückgabe ihrer Lebensgebiete und auf Kompensation. 1971 bekamen sie ca. 1 Milliarde Dollar sowie 16 Millionen Hektar Land zugesprochen. 1979 erkannte die Regierung die allgemeinen Landrechte der Urbevölkerung offiziell.

In den nächsten zwei Jahrzehnten engagierten sich Vertreter der Inuit und Dene-Indianer mehr und mehr politisch und forderten eigenständige Provinzen. 1999 wurde aus dem östlichen Teil des Northwest Territories ein Stück herausgetrennt und es entstand Nunavut, ein neues Territorium und damit die politische Eigenständigkeit der Inuit. Die Verhandlungen der Dene-Indianer zu einer eigenständigen Provinz im Norden Kanadas sind noch nicht abgeschlossen und gehen weiter.

Es gab Ende des 21. Jahrhunderts weitere Landrückgaben an verschiedene Stämme und damit auch die Übergabe von Nutzungsrechten für Wald, Wasser und Bodenschätze, sowie finanzielle Strukturhilfen zu ihrer Entwicklung. Diese Schritte sind notwendig und wichtig zur weiteren Verbesserung der Lebensbedingungen der Ureinwohner.

Dieses Schicksal ist nur eines von vielen indigener Völker. Die Native Americans, Aboriginals und Maori in der Vergangenheit, aber auch heute noch zum Beispiel die Uighuren in China erlebten und erleben ähnliches Leid.


Vom stolzen Indianer aus meinen Büchern ist wenig  sichtbar. Kultur und Traditionen kann man an manchen Stellen in “lebenden” Museen erfahren, es gibt gerade hier im Yukon und in British Colombia ab und an kulturelle Zentren, die auch für Reisende zugänglich sind. Ob die Bemühungen Kanadas und der Welt ausreichen, um zumindest teilweise wieder gut zu machen was angerichtet wurde, ist schwer zu sagen. Es wäre schön, wenn die indigenen Völker ihre Kultur und Traditionen bewahren und weitergeben können an die folgenden Generationen, wenn sich ihr Lebensstandard an den der restlichen Kanadier anpassen würde und wenn die Kluft zwischen diesen Kulturen auch überwunden werden könnte. 

Vielleicht haben wir auf unserer Reise noch das Glück, bei einem der grossen Pow Wow Festivitäten als Zuschauer dabei sein zu können, dann erwachen Traditionen, Tänze und Rituale zum Leben und reise ich  vielleicht 150 Jahre zurück zu den “Söhnen der grossen Bärin”.

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